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Mehr als 500 Wissenschaftler:innen rufen zu neuer Landwirtschaft auf

Mehr als 500 Wissenschaftler:innen rufen zu neuer Landwirtschaft auf

In Anbetracht des durch den Ukraine-Krieg entstandenen weltweiten Weizenmangels rufen mehr als 500 Agrar- und Ernährungsexperten zu einem grundlegenden Umsteuern in der Agrar- und Ernährungspolitik der Europäischen Union auf.

Dies sind – eng am Text orientiert – die Kernaussagen:

  • Die Ukraine-Krise mache den nicht nachhaltigen und ungerechten Charakter unserer aktuellen Art und Weise der Produktion und des Konsums von Lebensmitteln deutlich.
  • Erforderlich seien Lösungen, die auch langfristig die existentielle Bedrohung abwenden könnten, die durch unser Ernährungssystem für unsere Gesundheit und unseren Planeten entstehe.
  • Entscheidend sei eine Umgestaltung der heutigen Lebensmittelsysteme, um weltweite Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Zwar werde genug Getreide zur Versorgung der gesamten Weltbevölkerung produziert, dies erreiche aber aufgrund von Ungleichheit und Fehlverteilungen einen Teil der Weltbevölkerung nicht. Das Getreide werde stattdessen an Tiere verfüttert, als Biokraftstoff verwendet oder anderweitig verschwendet.
  • Während in Afrika und im Nahen Osten Hunger drohten, sei Europa vorwiegend bedroht durch eine ungesunde Ernährung, die sich aus dem hohen Konsum raffinierten Getreides und tierischer Erzeugnisse ergebe.
  • Es sei notwendig, die Umstellung auf eine gesündere Ernährung mit weniger tierischen Produkten in Europa und anderen Ländern zu beschleunigen. Anzustreben sie ein höherer Konsum von Hülsenfrüchten, Gemüse und Obst und ein geringerer Konsum von tierischen Produkten. Dies könnte auch den Druck auf die weltweiten Getreidevorräte verringern, da derzeit ein Drittel des weltweiten Kalorienverbrauchs an Nutztiere verfüttert werde und mehr als drei Viertel der landwirtschaftlichen Böden der Produktion von Produkten aus der Nutztierhaltung diene.
  • Eine Verringerung des Getreideverbrauches in der EU könne durch eine Verringerung der Produktion und des Konsums tierischer Lebensmittel erreicht werden.
  • Eine drastische Verringerung tierischer Lebensmittel sei Voraussetzung für die Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 2°C, der Zerstörung der Lebensräume und der Überschreitung der planetarischen Grenzen durch die Landwirtschaft.
  • Eine Umstellung auf eine pflanzenbasierte Ernährung könnte außerdem ca. 11 Millionen menschliche Todesfälle verhindern und die globale Krankheitslast erheblich verringern.
  • Es sei unerlässlich, in einen Übergang zu gesunden und nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu investieren, um einen sicheren und lebenswerten Planeten für künftige Generationen zu gewährleisten.

Nicht nachhaltige Agrar- und Ernährungspolitik

Der Appell ist überfällig. Die europäische Agrarpolitik setzt nach wie vor in einem extremen Ausmaß auf Tierprodukte, deren Produktion massiv subventioniert wird.

Aus den Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ergibt sich, dass mittlerweile nur noch 20 % des in Deutschland produzierten Getreides von Menschen direkt konsumiert wird - Zitat:

  • "Ein Fünftel des verfügbaren Getreides wird für den direkten menschlichen Verzehr genutzt. Indirekt dient es dem menschlichen Verzehr, in dem es für die Tierfütterung eingesetzt wird. Dabei kann auch Getreide verfüttert werden, das zwar für die menschliche Ernährung gedacht war, aber aufgrund von Witterung und Erntezeitpunkt nicht mehr den Anforderungen der Mühlen genügt. Je nach Getreideart werden zwischen 42 Prozent (Weichweizen, Hafer) und 83 Prozent (Mais) verfüttert. Insgesamt werden etwa 58 Prozent des verfügbaren Getreides als Futter genutzt. Daneben dient Getreide auch zu 16 Prozent als nachwachsender Rohstoff für die Energieerzeugung und für die (Stärke-)Industrie."

Das Ministerium versucht diese alarmierende Befundlage unter Verweis auf die hohen Ansprüche an die Getreide- und Backqualität für den direkten menschlichen Konsum zu relativieren:

  • "Getreide für den menschlichen Verzehr, insbesondere Weizen, braucht sehr gute Böden, so dass nicht auf allen Flächen Backgetreidequalität erzeugt werden kann. Weizen kann auch nicht jedes Jahr auf der gleichen Fläche angebaut werden, so dass andere Getreidearten eine gute Erweiterung der Fruchtfolge sind. Futtergetreide wie Gerste hingegen ist weniger anspruchsvoll und so können die sehr guten klimatischen Bedingungen in Deutschland genutzt werden, um den Bedarf an Futtergetreide zu decken."

Beschrieben werden hier freilich keine Natur-Notwendigkeiten, sondern künstlich erzeugte Vorgaben, die sich aus schädlichen Standards und Ernährungsgewohnheiten ergeben.

Kurzfristiges Gewinn- und Konsumstreben ist nach wie vor gesellschaftlich prägend. Nur so lässt sich erklären, dass Ansprüche an eine angebliche Back-Qualität in privilegierten Ländern als ernsthaftes Argument für die Beibehaltung einer monströs nicht-nachhaltigen Landwirtschaft überhaupt erwogen werden.

Selbstverständlich können auch Menschen vermehrt Gerste verzehren, Hafer ist gesund und auch proteinärmerer Weizen lässt sich in Wirklichkeit verbacken.

Notwendig ist eine Änderung der Ernährungs- und Backgewohnheiten. Sogenanntes Futtergetreide sollte dabei dem direkten menschlichen Konsum zugeführt werden.

Oberflächliche Bedürfnisse versus Nachhaltigkeit

In der durch Nutztierhaltung und Tierkonsum geprägten Gesellschaft wird für die Befriedigung höchst oberflächlicher und künstlich erzeugter Konsumfreuden die Zerstörung der natürlichen Lebens-Grundlagen unseres Planeten in Kauf genommen - von milliardenfachem Tierleid ganz zu schweigen.

Die Covid-Krise und der Krieg in der Ukraine haben gleichzeitig erneut für alle sichtbar deutlich gemacht, wie schnell große Geldsummen mobilisierbar sind, wenn deren Verfügbarkeit politisch für erforderlich angesehen wird.

Demgegenüber setzt die Landwirtschafts- und Ernährungspolitik höchstens auf kleinschrittig-langfristige Veränderungen, mit bei weitem zu geringen Investitionen in eine nachhaltige pflanzenbasierte Landwirtschaft und mit einer fortdauernden hohen Abhängigkeit von den Interessen der Nutztierhalter-Lobby.

Dieser quälender langsamer Prozess ist nicht deshalb quälend-langsam, weil es nicht anders ginge, sondern weil es nicht anders gewünscht wird bzw. den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen der Tierausbeutungsindustrie Priorität zugewiesen wird.

Auch mehrfache Beteiligungen der Grünen an früheren Bundesregierungen haben zu keinem echten Umschalten geführt, wie die aktuelle Krise und der weiterhin auf extrem hohem Niveau verharrende Fleischkonsum zeigt.

Der kürzliche Vergleich durch Bundeskanzler Olaf Scholz von Klimaaktivisten mit dem Nationalsozialismus begründet bezüglich der deutschen Bundesregierung Zweifel daran, dass die derzeitige Bundesregierung das drohende Desaster tatsächlich verstanden hat und zu seiner Abwendung bereit ist.

Kleine Schritte sind längst nicht mehr ausreichend. So gelangte eine aktuelle Studie zu dem Ergebnis, dass eine Reduktion des Konsums tierischer Produkte um 75 % in den wohlhabenden Ländern notwendig wäre, um den schlimmsten Verheerungen von Umweltzerstörung und Klimawandel zu entgehen.

Seitens der Politik werden für ein solches Umsteuern aber derzeit keine entschlossenen Schritte eingeleitet:

  • Nichts deutet leider darauf hin, dass die Politik bereit ist, den erforderlichen Wandel nunmehr durchzusetzen. Der aktuelle Appell der mehr als 500 Wissenschaftler:innen wird vermutlich im Hinblick auf politische Taten ungehört verhallen.

Es verbleibt als vorrangige Hoffnung, dass die Entwicklung umweltschonender und tierleidfreier Lebensmittel weiter Fortschritte macht, Konsument:innen noch stärker für den Umstieg auf tierleidfreie Produkte gewonnen werden können und so die Wirtschaftlichkeit der Tierausbeutungsindustrie auch ohne grundlegende politische Interventionen noch rechtzeitig zusammenbricht.

Womöglich würde es bei weiter abnehmender Wirtschaftlichkeit der Tierausbeutungsindustrie sogar politisch gelingen können, die fortdauernde Subventionierung einer Landwirtschaft zu beenden, die auf Tierausbeutung, ungesunder Ernährung und Umweltzerstörung beruht und die weltweite Ernährungssicherheit gefährdet.

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