Interview: Flüchtlinge an der ungarischen Grenze

Interview: Flüchtlinge an der ungarischen Grenze

Menschen werden durch Krieg, Vernichtung und Verfolgung bedroht. Sie müssen alles aufgeben und ihre Heimat verlassen. Wer sich ernsthaft mit der Thematik auseinandergesetzt hat und wer Geflüchtete kennt, weiß, welche Tragödie sich dahinter verbirgt.

Andere aber sehen nicht das Leid oder wollen ihm gegenüber blind sein, verfallen in Tiraden vom angeblichem Asylmissbrauch oder bemühen mit Überflutungs-Begriffen Untergangsszenarien.

Auf vegan.eu nehmen wir klar Stellung für die Geflüchteten und ihr Recht auf Schutz und menschenwürdige Versorgung. Wir wenden uns gegen rechtspopulistische und menschenverachtende Positionen, die den geflüchteten Menschen das wenige neiden, was ihnen vom Leben geblieben ist.

Manuel Wetzig, ein seit Jahren tierrechtlich engagierter, 28 jähriger Veganer aus der Region Hannover, ist im Oktober für eine Woche nach Ungarn gefahren, um Hilfe zu leisten und zu dokumentieren. In einem langen Telefoninterview befragte ihn Guido F. Gebauer für vegan.eu über das, was er erlebte.

Sämtliche der hier gezeigten Bilder wurden von Manuel selbst aufgenommen und sind zusammen mit weiteren Bildern auf der Facebook-Seite Refugees Welcome in Zákány (Hungary/Croatia) dokumentiert.

 

Vegan.eu im Interview mit Manuel Wetzig

Kannst du dich kurz unseren Lesern vorstellen?

Ich bin Manuel, 28 Jahre alt und lebe in der Region Hannover, wo ich mich seit vielen Jahren aktiv für Tierrechte einsetze. Dies tue ich seit letztem Jahr in erster Linie für ARIWA (Animal Rights Watch), wo ich unter anderem die ortsansässige Gruppe leite. ARIWA betreibt Recherchen und Aufklärung über die bedrückenden Zustände in der Tierindustrie und macht diese einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Wir stehen für eine tier- und umweltfreundliche vegane Lebensweise, führen Kampagnen und Aktionen gegen Tierausbeutung durch und setzen uns bundesweit für die Anerkennung von Tierrechten ein. Menschenrechte und Tierrechte sehen wir als untrennbare Einheit an.

 

Du bist vor kurzem nach Ungarn gefahren, um Flüchtlingen zu helfen. Wie bist du dazu gekommen?

Ich bin angesprochen worden von Freunden von "amoya - refugees welcome", die sich für Flüchtlinge engagieren. Sie halfen hier bereits in einem Flüchtlingsheim, wollten aber noch mehr tun. Sie fragten mich, ob ich mich an einer Fahrt nach Ungarn beteiligen würde und ich habe spontan zugesagt. Die Idee war, vor Ort zu helfen. Mir ging es aber auch darum, mir ein Bild zu machen und das Geschehen fotografisch und durch Bericht zu dokumentieren, auch um dazu beizutragen, dass in Deutschland und von Deutschland aus Flüchtlingsprojekte gefördert werden.

Wir haben Geld und Sachspenden (Kleidung) gesammelt. Babynahrung und Müsliriegel hatten wir noch vor Ort in Deutschland besorgt. Brot, Wasser und Kinderspielzeug haben wir dann in Ungarn gekauft. Uns lag am Herzen, das zu besorgen, was wirklich gebraucht wurde und so effektiv helfen zu können.

Vor Ort in Ungarn konnten wir eine sehr hohe Hilfsbereitschaft feststellen. Wir trafen dort freiwillige Helfer aus den verschiedensten Ländern und es kamen viele Hilfslieferungen an. Es waren alles private Spenden, staatliche Hilfe durch Ungarn oder Hilfe durch andere europäischen Regierungen gab es nicht.

Es wurden durch uns auch Babypakete gepackt, die Windeln und Feuchttücher etc. beinhalteten. Was aber zunächst unterging, waren Sachen für Kinder. Die Kinder hatten viel durchgemacht und deshalb haben wir entschieden, am vorletzten Tag Kinderspielzeug zu kaufen und an die Kinder zu verteilen. Für die Kinder war das etwas sehr Wertvolles.

Bezüglich der Sachspenden stellten wir fest, dass Kleiderspenden besser an Organisationen gegeben werden, die deren Verteilung organisieren können. Für uns war eine Verteilung unter den gegebenen Bedingungen von Kleidung nicht möglich. Dabei ist Kleidung aber wichtig. In den Nächten war es wirklich sehr sehr kalt und anfangs am Tag richtig warm. Am Ende der Woche wurde es dann tagsüber auch kälter. Gerade wenn die Menschen im Regen stehen müssen, durchnässt ihre Kleidung. Für unsere Möglichkeiten bei der Verteilung direkt an den Zügen waren die Kleidungsspenden aber weniger geeignet. Wir sind an einem Tag nach Opatovac in Kroatien nahe der serbischen Grenze gefahren. Dort befindet sich ein militärisch kontrolliertes Flüchtlingslager, wo auch freiwillige Helfer sind, denen wir die Kleidung übergeben haben. Nahrungsmittel sollten am besten direkt vor Ort gekauft werden, weil sie dort oft günstiger sind und man den Platz im Auto anderweitig nutzen kann. Insofern erwiesen sich besonders die Geldspenden als sehr effektiv.

 

Wo ward ihr in Ungarn, was habt ihr dort getan und erlebt?

Wir sind mit dem Auto von Deutschland aus losgefahren, über die Tschechei und die Slowakei bis nach Zákány, einer ungarischen Grenzstadt direkt an der kroatischen Grenze. Die Flüchtlinge wurden aus Tovarnik mit Zügen zur ungarischen Grenze gebracht, welche sie dann zu Fuß überqueren und danach noch auf ungarischer Seite eine 500 Meter lange Schlammpiste zurücklegen mussten.

Das ganze geschah unter dem Eindruck eines massiven Aufgebots von Soldaten und Polizei. In Zákány wurden die Menschen – anders kann ich es nicht ausdrücken – in Züge gestopft. Die Züge gingen zur österreichischen Grenze nach Hegyeshalom. Aber die Flüchtlinge wussten überhaupt nicht, wohin sie gefahren wurden. Wir haben versucht, es so vielen wie möglich zu sagen, um das allseits spürbare bedrückende Klima der Angst zu mindern und den Menschen Hoffnung zu geben.

Es waren dramatische Szenen, die ich nicht mehr vergessen werde. Die Menschen wussten nicht, wohin, die ungarischen Polizisten sprachen nicht mit ihnen oder riefen sehr forsche Befehle. Es gab seitens der Behörden bis auf wenige Ausnahmefälle bei den Polizisten keinen Versuch, die Menschen zu informieren, sie zu beruhigen oder freundlich mit ihnen umzugehen. Neben der Polizei, die die Menschen direkt in die Züge verfrachtete, wurde das Gebiet von Soldaten abgesichert, welche ihre Maschinengewehre entsicherten, wenn Flüchtlinge ankamen. Die Polizisten hatten in einer Schicht Pfeffer-Sprayer bei sich. Ich hatte Angst, diese könnten eingesetzt werden, was in den überfüllten Zügen zu Panik und Luftnot geführt hätte.

Uns ließ man bei der Verfrachtung der Menschen in einen Zug meistens nicht an die Flüchtlinge heran. Der Zug fuhr dann einige hundert Meter auf ein Gleisbett, wo wir unten am Gleis standen und die Hilfsgüter in die Züge reichen konnten. Es gab keinen Bahnsteig. Man gab uns nur 5-10 Zeit Minuten Zeit, um die Hilfsgüter, vor allem Wasser und Brot, durch die Fenster zu reichen. Die Menschen durften nicht aussteigen. Sie hatten eine 4-6 stündige Fahrt vor sich, wobei sie zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, wie lange und wohin die Reise gehen würde. Man schickte die Menschen in die Züge, ohne zu wissen, wann sie das letzte Mal gegessen oder getrunken hatten. Wären freiwillige Helfer nicht dagewesen, hätten die Flüchtlinge – abgesehen von nur wenigen Wagons, die durch das Rote Kreuz versorgt wurden – keinerlei Verpflegung erhalten. Wir haben uns in der kurzen Zeit, die man uns gab, bemüht, dass jeder etwas zu essen und zu trinken bekam, wobei wir dies aber nicht sicher feststellen konnten, weil die Sachen durch das Fenster in aller kürzester Zeit durchgereicht werden mussten.

Keine offiziellen Stellen sorgten dafür, dass die Menschen Essen und Trinken für diese Fahrt erhielten. Ausschließlich Privatpersonen und zu einem kleinen Teil (für wirklich nur wenige Wagons) das Rote Kreuz bemühten sich darum, wenigstens eine Versorgung mit dem Allernotwendigsten sicherzustellen und Hunger und Durst zu stillen.

Wir nutzten die wenigen Minuten außerdem so gut es ging, um den Menschen Informationen zu geben, damit sie wussten, wohin die Züge fahren. Wir haben sie willkommen geheißen, ihnen viel Glück gewünscht und ihnen Zuwendung gezeigt. Die Menschen haben dies durchweg dankbar, sehr dankbar aufgenommen.

 

Welchen Eindruck machten die Menschen auf dich? Gab es Aggressivität oder Gewalt seitens der Flüchtlinge?

Wir erlebten die Menschen ausschließlich als hilflos und ängstlich und konnten keinerlei Aggressivität wahrnehmen. Wir konnten nur Erschöpfung und Verängstigung beobachten.

Als wir sie aber versorgten und mit ihnen sprachen, konnten wir Beruhigung und Erleichterung sehen. Plötzlich ging es für sie voran, sie bekamen etwas zu essen und Wasser zum Trinken. Dazu muss ich sagen, dass einige der Menschen auch sehr durstig ankamen. An einem Tag war es noch sehr warm und die Leute waren dichtgedrängt in die Züge verfrachtet worden. Als wir ihnen Versorgung und Informationen gaben, baute sich ihr Stress sichtbar ab.

Leider wissen wir nicht, ob die Hilfsgüter bei allen Leuten angekommen sind. Pro Wagon waren laut ungarischer Vorgabe 120 bis 150 Menschen zu transportieren, wobei Kinder aus Gründen, die ich nicht verstehe, nicht mitgezählt wurden. Gerade wenn viele Kinder da waren, waren die Wagons deshalb besonders voll.

Es war uns nicht möglich, sicherzustellen, dass jeder Wasser und Brot erhielt. Wir konnten aber beobachten, dass viel geteilt wurde und wir nahmen keine Auseinandersetzungen um die von uns gebrachten Lebensmittel und das Wasser wahr.

Regierungsamtliche Stellen haben sich um die Menschen ansonsten in keiner Weise gekümmert. Sie haben sie nur in den Wagons zusammengepfercht. Konflikte zwischen den Menschen aus unterschiedlichen Nationalitäten konnten wir nicht beobachten.

 

Haben sich die Polizisten gegenüber den Flüchtlingen freundlich verhalten? Haben sie ihnen Informationen gegeben und versucht, sie zu beruhigen?

Bis auf wenige Ausnahmen, nein. Polizei, Grenzer, ja selbst das ungarische Rote Kreuz haben sich nicht zugewandt gegenüber den Menschen verhalten und meistens gar nicht mit ihnen gesprochen. Ich habe dann erfahren, dass ein Redeverbot herrschte. Die offizielle Vorgabe war, mit den Menschen, die von Soldaten mit in der Regel ungesicherten Maschinengewehren empfangen und dann durch Polizisten in die Züge gestopft wurden, überhaupt nicht zu reden. Teilweise wurden aber auch Befehle zum Einsteigen kommuniziert. Ebenfalls schlugen Polizisten mit ihren Knüppeln gegen die Wagons und die Türen, um die Menschen anzutreiben. Eine Freiwillige vor Ort bekam einen Dialog zwischen zwei Polizisten mit, in dem einer der Polizisten äußerte, er würde die Kinder am liebsten gegen die Wand hauen.

Das ganze Auftreten war sehr martialisch und übertrieben. Es gab keine Bemühungen, beruhigend zu wirken. Es war eine reine Machtdemonstration mit dem Ziel der Einschüchterung.

Auf der anderen Seite gab es aber auch einzelne, wenige Polizisten, die Menschlichkeit zeigten. Sie halfen kleinen Kindern in die Züge, was vielleicht selbstverständlich klingt, aber dort nicht selbstverständlich war. Ein Polizist hat einem Kind etwas Süßes gegeben. Das waren aber ganz seltene Gesten, die wir beobachten konnten. Hauptsächlich wurde den Flüchtlingen mit kompletten Schweigen gegenübergetreten.

 

Wie verhielten sich die Polizisten euch gegenüber?

Je nach der Stimmung der Polizisten durften wir beim Beladen der Züge mit den Flüchtlingen – diese Formulierung trifft das, was wir beobachten konnten - mit Abstand zuschauen und auch Fotos machen. Manchmal waren wir also geduldet, bei anderen Schichten wurden wir wiederum nicht geduldet, durften nicht dort stehen und keine Fotos machen. Auch die verbale Begrüßung der Flüchtlinge durch Zurufe wurde nur in den ersten Tagen erlaubt, uns danach aber verboten. Man empfand uns offenbar als Störfaktor und fürchtete, wir könnten den reibungslosen Ablauf beeinträchtigen.

Wir haben Leute ankommen sehen wie in einer Riesenkaravane, 1000 bis 2000 Menschen, haben die Hilfsgüter aber erst verteilen dürfen als die Menschen bereits im Zug waren und dies auch nur für wenige Minuten. Als der Zug dann erneut an uns vorbeifuhr, haben die Menschen aus den Fenstern gewunken und sich bedankt.

Zur Grenze durften wir nur, wenn keine Flüchtlinge unterwegs waren. Wenn ein Zug weggefahren war, hatten wir die Möglichkeit, an die Grenze gehen und zu sehen, welchen Weg die Flüchtlinge auf ihren letzten Metern genommen hatten.

Zwischen der Ankunft der Züge haben wir Esspakete für die nächsten Flüchtlinge vorbereitet. Die Sachen packten wir an einem alten Bahnhofshaus, wo wir auch unser Lager hatten. Da das Bahnhofshaus mit Polizei und Militär besetzt war und die Züge dort nicht hielten, mussten wir die Sachen mit großem Kraftaufwand einige hundert Meter zu dem Platz transportieren, wo die Züge für die Hilfsgüterverteilung hielten. Es gab uns gegenüber keinerlei Entgegenkommen.

Insgesamt schätze ich, dass die Versorgung zu 80-90% Privatleuten überlassen wurde, der Rest wurde durch das örtliche Rote Kreuz übernommen. Aber die haben insgesamt nur wenig herausgegeben und es gab auch Kompetenzstreitigkeiten.

 

Wie war der Kontakt zwischen den ungarischen Mitarbeitern des Roten Kreuzes mit den Flüchtlingen?

Grob gesagt wirkten sie relativ lustlos und einige waren auch echt unfreundlich. Es gab Sprüche wie „Jetzt stehen wir hier und geben Essen, es könnte ja auch an unsere Obdachlosen verteilt werden“. Ähnliches haben wir über Mitarbeiter des roten Kreuzes in Kroatien gehört, wo wir hingefahren waren, um unsere Kleiderspenden abzugeben. Einige Mitarbeiter des Roten Kreuzes differenzierten offenbar zwischen den eigenen Landsleuten und unliebsamen Flüchtlingen, wobei dies insbesondere bei humanitären Einsätzen keine Rolle spielen dürfte. So ist es rüber gekommen und so haben wir es auch von einigen anderen Hilfsstationen gehört.

 

Trotz der geringen Zeit - konntet ihr mit den Flüchtlingen ins Gespräch kommen?

Wir konnten beim Beladen der Züge mit den Menschen nur sehr begrenzt ins Gespräch kommen, da wir Abstand halten mussten. Wir konnten aber die ersten Tage noch Stichworte rufen, wie „herzlich willkommen“ oder „habt keine Angst“. Allerdings wurde das den Polizisten schnell zu dumm, die wollten nicht, dass wir mit den Menschen reden, weshalb es uns verboten wurde.

Die beste Möglichkeit, mit den Menschen kurz ins Gespräch zu kommen, hatten wir bei der Essensverteilung auf dem Gleisbett. Wenn wir alles ausgegeben hatten und hoffentlich jeder etwas hatte, konnten wir noch ein paar Gespräche führen oder die Hände der Menschen schütteln und ihnen signalisieren, dass nicht alle Menschen bei uns in Europa so sind wie die Polizisten, dass wir hier bei ihnen sind. In Erinnerung geblieben ist mir besonders ein älterer Mann und seine Tränen in den Augen. Auch andere weinten, so dankbar waren sie, dass wir da waren.

 

Habt ihr größere Gruppen von Flüchtlingen gesehen?

Ja, wir haben ausnahmslos größere Gruppen an Flüchtlingen gesehen. Dies liegt daran, dass nur größere Gruppen die kroatisch-ungarische Grenze überqueren durften, was an den Zugtakt angepasst wurde. Es waren Anfang der Woche 5-6 Züge am Tag mit 8 Wagons mit jeweils 120 bis 150 Menschen, abgesehen von den Kindern. Am Wochenende kamen Züge mit bis zu 20 Wagons, was daran lag, dass eine andere Grenze zugemacht worden war.

 

Gab es viele Kinder unter den Flüchtlingen?

Es waren erschreckend viele Kinder unter den Flüchtlingen. Ich kannte das, was vorher durch die Medien vermittelt wurde, dass ein Großteil der Flüchtlinge junge Männer sind, was aus vielen Gründen nachvollziehbar ist. Aber dass es so viele Kinder waren, hat mich dann doch schockiert.

Diese Menschen gehen einen sehr schweren Weg und es sind viel mehr Kinder unterwegs als gezeigt wird, obwohl es ja eigentlich keine Rolle spielen sollte, wie alt ein Mensch ist.

Ich war nicht schockiert, dass die Eltern ihre Kinder mitnehmen, aber es trifft einen automatisch noch einmal mehr, wenn es Kinder sind. Am vierten Tag war ich fertig mit der Welt. Alles ist auf mich eingerieselt, aber was mir Halt gegeben hat außer den Freunden vor Ort und den anderen Helfern war eine größere Gruppe aus dem Ruhrpott, welche mit dem Projekt „Cars of Hope Wuppertal“ nach unserer Reise noch weitere Fahrten organisierte und nach wie vor sehr aktiv ist. Es war eine Achterbahn der Gefühle – einerseits das Leid der Menschen und wie mit ihnen umgegangen wurde, andererseits die hohe Hilfsbereitschaft aller freiwilligen Helfer und derjenigen, die die Helfer durch Spenden unterstützten.

An einem Tag kam ich relativ nahe an den Ort des Beladens der Züge mit die Menschen heran und konnte Fotos machen. Ich stand sogar genau neben der Schlange der Menschen. Plötzlich kam ein kleines Kind auf mich zu und hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben. Es kamen auch noch 2-3 weitere Kinder, die mich umarmten. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte Angst, dass die Polizisten oder Soldaten Stress machen würden. Glücklicherweise haben sie diesen kurzen Moment der menschlichen Zuwendung, der mich sehr berührte, dann aber doch geduldet.

 

Sind die Menschen still oder eher unruhig gewesen?

Die Menschen waren alle sehr still, sehr eingeschüchtert. Sie hatten von A nach B zu gehen, wobei ihnen im Prinzip keiner etwas sagte, wenn nicht gebrüllt wurde. Es herrschte großenteils Schweigen. Als wir dann die Sachen ausgeben konnten und die Polizei nicht mehr so präsent war - wobei sehr wohl die Soldaten im Hintergrund allgegenwärtig blieben - sind die Menschen etwas aufgetaut.

Viele der Menschen waren aber sehr, sehr erschöpft, einige konnte kaum noch gehen. Den Kindern hat man dies Gottseidank nicht so angesehen. Kinder leben in ihrer eigenen Welt und wir konnten sehen, dass sich die erschöpften und verängstigten Mütter und Väter aufopferungsvoll und liebevoll um die Kleinen kümmerten. Die Familien taten wirklich alles, um das Leid von den Kindern soweit wie möglich fernzuhalten. Hier erbrachten diese Menschen eine Meisterleistung, obwohl der Stress allgegenwärtig war. Auch deshalb haben wir Kinderspielzeug geholt, damit die Kinder es noch weniger mitbekommen.

 

Habt ihr einen Überblick gewonnen, aus welchen Ländern und warum die Menschen fliehen?

Die, die wir fragen konnten, stammten aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Nach den Gründen der Flucht haben wir aus Zeitmangel, aber auch aus Pietätsgründen, nicht gefragt. Es war der unwichtigere Punkt. Klar war, die Menschen flüchten vor etwas Schlimmen, vor etwas Traumatisierendem, damit wollten wir sie nicht konfrontieren. Sie hatten unglaubliche Strapazen hinter sich und Angst vor der Zukunft. Auffällig war, dass alle aus Kriegsländern stammten.

Wir haben sie gefragt, wie es ihnen geht, woher sie kommen und wohin sie möchten. Manche hielten die Daumen hoch und sagten „Ja, gut“ , aber ihre Gesichter waren fertig. Manchen ging es in diesem Moment, wo sie gegessen und getrunken hatten und die Gewaltmärsche bei bitterer Kälte in der Nacht für einen Moment ihr Ende hatten, tatsächlich den Umständen entsprechend gut. Andere habe aber auch ehrlich geantwortet, dass es ihnen nicht gut geht.

Die Ziele waren unterschiedlich. Ungefähr die Hälfte hatte gar keine Vorstellung von einem Zielland. Hauptsache weg von dort, wo sie hergekommen waren. Das war mein Eindruck. Viele andere wollten in Richtung Deutschland, Österreich oder auch in andere EU-Länder, was ja auch der Route entsprach, die sie bereits eingeschlagen hatten.

 

Wie hast du das verarbeitet, was du gesehen hast und von dem du Teil geworden bist?

Alle Helfer standen unter Strom und waren seelisch stark belastet. Es sind Gefühle von Mitgefühl und Verzweiflung - man konnte kaum fassen, was man erlebte. Es war surreal. Es waren Menschen, die da kamen, und man stellte sich Fragen, wie das für einen selbst wäre, wenn man alles aufgeben müsste, welchen Weg diese Menschen hinter sich hatten. Man stellte sich in so einer Situation viele Fragen, die einen schon stark berührten.

Es war alles sehr bedrückend. Wenn ich eine Momentaufnahme mit der Kamera gemacht hatte, konnte ich es danach nicht fassen, dass ich dies Foto gemacht hatte – so surreal war es, dort zu sein. Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit und totale Traurigkeit ergreifen dich, wenn du Zeuge von so einem Geschehen wirst – nicht nur darüber, wie schlecht es den Menschen geht und wie vor Ort mit ihnen umgegangen wird, sondern auch über das Unverständnis in Deutschland und anderen Ländern, wo Leute sagen, diese Menschen hätten hier nichts zu suchen. Ich habe eine Woche gebraucht, um mit den Erlebnissen klarzukommen und werde sie nicht vergessen.

 

Hast du irgendwelche Hilfe durch andere EU-Staaten gesehen?

Nein, leider nicht. Außer der unzureichenden Hilfe durch das Rote Kreuz, die nur wenige erreichte, waren es alles private Sachen und private Helfer. Positiv ist, dass viel an Hilfsgütern und Spenden ankommt, aber an regierungsamtlicher Hilfe war nichts erkennbar.

 

Wird es eine Fortsetzung deines Engagements geben?

Definitiv, ich werde mich weiterhin für Flüchtlinge/Menschlichkeit einsetzen. Es sind zudem auch mit "amoya - refugees welcome", der Gruppe, mit der ich nach Ungarn gefahren wird und die ihr Engagement fortsetzen wird, Ausstellungen und Vorträge geplant, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Auf der Seite von "amoya - refugees welcome" kann sich auch jeder auf dem aktuellen Stand halten.

 

Du lebst vegan und bist tierrechtlich engagiert – wieso setzt du dich für die Flüchtlinge ein? Das scheint nicht für jeden Veganer selbstverständlich zu sein, jedenfalls erreichen uns bei vegan.eu Kommentare und Nachrichten, wonach Flüchtlinge eine Bedrohung seien und die Grenzen dicht gemacht werden sollten. Ohnehin seien die Flüchtlinge alles andere als Veganer, meinte eine Kommentatorin gar. Wie stehst du hierzu aus veganer Sichtweise?

Diese Fragen sind mir aus einer veganen Perspektive noch gar nicht gekommen. Wer sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, der wird feststellen, dass an der Hetze gegen Flüchtlinge und den vielen negativen Gerüchten nichts dran sind und es sich um haltlose und böswillige Unterstellungen handelt. Natürlich gibt es immer Menschen, die Gutes oder weniger Gutes tun, dies aber auf ganze Volksgruppen zu übertragen, ist eine Frechheit und bei diesen Menschen besonders schlimm, weil sie wirklich aus Angst fliehen. Sie fliehen aus Angst und hier erwartet sie erneut Hass.

Ich glaube, es liegt auch an der Trägheit des Menschen. Viel zu viele Menschen hinterfragen allgemein Dinge nicht. Auch das gesellschaftliche Umfeld spielt eine Rolle. Man hört immer häufiger diese Stammtischparolen/rechtspopulistischen Äußerungen. Sich aus solchem Denken herauszulösen, ist ähnlich wie der Weg zum Veganismus, wo man sich mit sich selbst beschäftigen und scheinbare Wahrheiten ernsthaft hinterfragen muss. Es gibt Leute, die meinen es vielleicht nicht böse, haben aber aufgrund von rechtspopulistischen Positionen Ängste, die aber unbegründet sind. Sie richten ihre Aufmerksamkeit dann selektiv auf diejenigen Informationen, die ihre Vorurteile zu bestätigen scheinen. Dabei merken sie nicht, dass sie so selbst Teil der Ausbreitung von Gerüchten und Stereotypen werden, die Ängste schüren. Da ist leider noch viel Aufklärung notwendig. Jeder sollte an sich selbst appellieren, sich auf die Seite der Menschlichkeit und vehement menschenverachtenden Strukturen entgegenzustellen → "Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt" (Mahatma Gandhi).

Die Frage, ob Flüchtlinge Veganer sind, würde ich nie stellen und finde diese auch absurd. In Hilfssituationen kann ich nicht fragen, ob jemand vegan lebt oder nicht, ob er dies oder jenes getan hat. Beim Veganismus geht es grundsätzlich darum, Taten und Strukturen zu hinterfragen und zu kritisieren. Die Person als solche bleibt immer ein Mensch und es gelten für sie die Menschenrechte. Ich bin als Mensch nicht wertvoller, nur weil ich zum Beispiel vegan lebe. Diese Art von Argumentation finde ich sehr gefährlich. Menschen- und Tierrechte bilden eine untrennbare Einheit, sonst hat man es schlichtweg nicht kapiert.

 

Hast du eine Erklärung dafür, dass man immer wieder auf Veganer und Tierschützer trifft, die massiv gegen Flüchtlinge, vor allem gegen muslimische Flüchtlinge, auftreten? Wie ist ihr Einfluss in der veganen Community?

Der Begriff „vegane Community“ muss aufgeschlüsselt werden. Die Motivation macht hier den entscheidenden Unterschied. Für einen ethisch motivierten Veganer ist es unmöglich, dabei mitzumachen, dass sich Gedankengut gegen Menschenrechte etabliert. Das ist ein Widerspruch. Bei anders motivierten Veganern fehlt diese ethische Basis, so dass es nicht erstaunlich ist, dass es unter diesen auch Menschen geben kann, die gegen Flüchtlinge auftreten.

Bei vielen Menschen ist es leider so, dass Tierschutz für sie nicht heißt, vegan zu leben. Aber solange Tiere in Haustiere und Nutztiere klassifiziert und insbesondere Nutztiere ausgebeutet werden, wird in gewisser Weise Rassismus betrieben, indem den betreffenden Individuen ein unterschiedlicher Wert zugewiesen wird. Wer damit kein Problem hat, mag vielleicht schneller geneigt sein, andere Menschen von den Menschenrechten auszuschließen.

Schließlich gibt es ebenfalls noch Personen mit völkischen Ansichten. Ihre Motivation ist, dass zu dem von ihnen vorgegebenen Umwelt-, Tier- und Heimatschutz auch der Veganismus dazugehöre. Tatsächlich geht es ihnen um andere Sachen, der Veganismus wird nur als Trend aufgegriffen, womit man Idealisten einfangen und für die rechte Sache gewinnen will.

Als Tierrechtler*in spricht man sich aber, wie gesagt, ganz klar gegen jegliche Herrschafts-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse aus und macht dabei keinen Unterschied zwischen Tieren und Menschen.

 

Es gibt eine Gruppe von Tierschützern, die sich ausschließlich mit Tierleidpraktiken anderer Kulturen auseinandersetzen und teilweise gegen Flüchtlinge sind. Sind das Rassisten?

Nein, pauschal kann man ihnen nicht allen vorwerfen, Rassisten zu sein, aber wenn der Fokus ausschließlich oder vorwiegend auf anderen Kulturen liegt, trägt dies sehr wohl zur Verbreitung rassistischer Vorbehalte bei.

So gibt es Tierschützer, die gegen Tierausbeutung sind, aber als Nicht-Veganer durchaus Tierausbeutungsprodukte konsumieren. Wenn sie sich gegen die Schlachtung von Tieren aussprechen würden, müssten sie selbst etwas verändern. Also wenden sie sich zum Beispiel nur gegen die Schächtung. Das Schächten kann einfach weggelassen werden und sie brauchen sich selbst nicht zu ändern. Es ist eben immer leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen, als bei sich selbst zu beginnen. Sie schaffen ein Feindbild, für das Leute kämpfen können, ohne sich einschränken zu müssen. In erster Linie ist ihre Motivation meines Erachtens Bequemlichkeit.

Wenn man sich aus Tierschutzgründen gegen das Schächten ausspricht, müsste man sich ebenfalls gegen das Schlachten aussprechen, welches ja auch in Deutschland im Rahmen der industriellen Fleischproduktion mit enormer Tierqual verbunden ist. Tut man dies nicht mit gleicher Vehemenz, wird dadurch ein rassistisches Weltbild gefördert. Demgegenüber sind aus tierrechtlicher Sichtweise Schlachten und Ausbeutung in keinem Fall zu rechtfertigen.

Die Leute realisieren manchmal gar nicht, was sie nach außen hintragen, wenn es ihnen um das Schächten geht. Wem es nur um das Schächten geht, der sieht nur eine Seite von der Medaille, schaut nicht auf die Barbarei des Schlachtens. Das Schächten und damit oft Muslime oder Juden werden die Feindbilder, nicht aber das Schreddern von Abermillionen Küken, das Schnäbel kürzen, die Kastration ohne Betäubung oder allgemein die industrielle Massentierhaltung, die eher unserem Kulturkreis entstammen. Diese Einseitigkeit muss nicht immer direkt rassistisch motiviert sein, sondern kann auch einfach unreflektiert sein.

 

Wie hoch schätzt du die Gefahr der Verankerung von rechten Strukturen in der veganen Szene ein?

Bemühungen von rechts, die Tierrechtsszene zu unterwandern, haben leider zugenommen. Dennoch sehe ich derzeit eine zwar reale, aber nur begrenzte Gefahr, da die Tierrechtsszene sich geschlossen dagegen ausspricht, sehr sensibel geworden ist und immer sensibler wird. So wird bei Tierrechtsveranstaltungen grundsätzlich darauf hingewiesen, dass man keine Person und keine Vereine dabei haben wolle, die für Unterdrückungssysteme stehen, egal ob Homophobie, Sexismus, Rassismus, Rechtspopulismus etc. Rechtspopulisten werden von Veranstaltungen verwiesen, da wir als Tierechtler*innen natürlich nicht Schulter an Schulter mit solchen Leuten stehen möchten, zumal dies ja auch eine Solidarisierung mit solchen Personen und ihren Positionen bedeuten würde. Es wird sich hier sehr klar distanziert. „Hauptsache für die Tiere“ ist ein Motto, welches ich als Tierrechtler nicht akzeptiere, weil dadurch die Distanzierung von rechtspopulistischen Positionen unterlaufen werden könnte. Die Distanzierung wird in der Tierrechtsszene sehr ernst und immer konsequenter durchgesetzt.

Es ist notwendig, eine Brücke zwischen Menschenrechten und Tierrechten zu bauen. Den positiven Bezug zu Menschenrechten bei Tierrechtler*innen kann man auch bei den beiden größten Tierrechtsorganisationen in Deutschland sehen. So haben die Tierbefreier auf ihrer Facebook Seite das Logo „Refugees welcome“ prominent eingebunden und wir bei ARIWA verwenden das von mir entwickelte Titelbild: „no border, no nation - animal liberation - Menschenrechte und Tierrechte, eine untrennbare Einheit“

 

Was könnte getan werden, um Tierrechte und Menschenrechte künftig stärker zu vernetzen?

Es ist wichtig, hier Aufklärung zu betreiben und am Ball zu bleiben. Es geht um ein ganzheitliches Konzept gegen jedwede Unterdrückungsformen. Es liegt an jedem einzelnen, auf diese Zusammenhänge immer wieder hinzuweisen. Ebenfalls sollten wir als Tierrechtler*innen Hand in Hand mit Menschenrechtsvereinen agieren und uns für die Menschenrechte stark machen.

Bezüglich der Flüchtlinge ist es notwendig, dass wir alle mehr Aufklärung betreiben, wozu auch die Regierung beitragen muss. Es wird sich in der Diskussion ständig auf vermeintlich negative Aspekte konzentriert, stattdessen müssen die positiven Aspekte hervorgehoben werden.

Ich finde es schlimm, dass es überhaupt darüber einen Diskurs gibt, ob man helfen solle. Natürlich muss allen geholfen werden und es kann nur um die Koordination und Verteilung gehen. Es werden aber Ängste geschürt und es wird ein ganz falsches Bild in der Öffentlichkeit gezeichnet, welches zurechtgerückt werden muss. Um dies zu erreichen, müssen wir versuchen, die Opfer aus der Anonymität zu holen und ihnen ein Gesicht zu geben, sie als Individuen darzustellen.

Vor kurzem fand ich einen Text, der zum Nachdenken anregt:

Der Visumsantrag von Anna Frank wurde damals von Amerika abgelehnt. Wäre es akzeptiert worden, wäre sie heute eine 86-jährige Frau, die in Boston lebt. Daran sollte jeder denken, der heute Menschen das Recht auf Asyl verwehren will.

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