Vegan ist Weg und Ziel
Wir verfügen über eine recht umfassende Datenbank über vegan lebende Personen, ihre Motive und Verhaltensweisen. So haben wir u.a. auch vegan lebende Personen befragt, auf was sie alles im Alltag achten. Dabei stellten wir fest, dass abgesehen von dem Konsens, kein Fleisch, keinen Fisch, keine Milch und keine Eier zu konsumieren, durchaus erhebliche Unterschiede bestehen:
Von den 2291 Personen gaben fast alle, genau genommen 95%, keine Lebensmittel zu konsumieren, in denen Gelatine enthalten sei. Mit 74% deutlich geringer war der Anteil der befragten Veganer, die auch keine Obstsäfte oder andere Getränke konsumierten, die mit Gelatine geklärt wurden. Auf Etiketten mit Kasein verzichteten sogar lediglich 25% der befragten Veganer. Jeweils drei Viertel verzichteten auf Honig (74%) und Leder (76%), wobei bei letzterem sich aus den Kommentaren aber ergab, dass viele kein neues Leder kauften, aber alte Produkte noch zu Ende trugen. 71% verzichteten auf Seide, während lediglich 62% auf Wolle verzichteten. Keine Tierprodukte in Farben, Leimen oder bei anderen Renovierungsmaterialien stellten lediglich 36% der befragten Veganer sicher, während 87% angaben, bei Lebensmitteln keine tierischen Zusatzstoffe zu dulden. Allerdings achteten nur 27% darauf, eine Vermischung von Lebensmitteln mit tierischen Stoffen im Sinne von Spuren, die durch gemeinsame Fertigungs- und Verpackungsstraßen entstehen können, zu vermeiden. Ebenfalls schließen nur 46% der befragten Veganer tierische Substanzen in Medikamenten aus - mit 74% liegt der Anteil bei Kosmetika wesentlich höher. 68% der befragten Veganer kochen auch für Freunde und Familienangehörigen keine Gerichte mit Tierprodukten. Allerdings stellen nur 51% sicher, dass bei jedem Essen in einem Restaurant auch mit Garantie keinerlei Tierprodukte verwandt werden.
Deutlich wird aus diesen Zahlen:
Veganismus ist kein einheitlich-monolithisches Verhalten, sondern ein Spektrum aus Verhaltensweisen, welche anstreben den Konsum und die Nutzung von tierischen Produkten zu minimieren bzw. so weit als möglich auszuschließen. Definitorischer Konsens besteht, dass hierzu notwendigerweise der Verzicht auf Fleisch, Fisch, Eier und Milch gehört. Ebenso besteht Konsens, dass auch tierische Zutaten, wie Gelatine, nicht konsumiert werden sollten. Umgekehrt achten aber nur noch 25% der Veganer konsequent auf die Vermeidung von Produkten, deren Etiketten Tierprodukte enthalten. Ebenfalls gibt eine nur knappe Minderheit der Veganer an, sich im Restaurant immer zu 100% sicher sein zu können, dass Gerichte ausschließlich vegane Zutaten enthalten. Dabei sind diese direkten Selbstangaben natürlich Überschätzungen. Wenn man die Verhaltensweisen der befragten Personen über einen längeren Zeit objektiv registriert hätte, wäre sicherlich bei vielen erkennbar geworden, dass der erhobene Anspruch doch nicht zu 100% im Alltag umgesetzt wird.
Anstatt von einem Spektrum veganer Lebensweisen würden andere Beobachter, wie beispielsweise Mitglieder der Tierrechtsinitiative Maqi, zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die befragten Personen nicht vegan leben und nicht als Veganer bezeichnet werden sollten. Würde dieser Logik gefolgt, käme dies aber der Abschaffung des Veganismus als gesellschaftlich existierender Lebensweise gleich. Denn wenn alle erfragten Verhaltensweisen zugrunde gelegt werden, gäbe es von über 2000 Befragten nur noch ein paar Dutzend, die gemäß ihrer Eigenangaben als vegan zu klassifizieren wären. Da aber bekannt ist, dass solche Selbstangaben oftmals erheblich von der Realität abweichen, dürfte auch dies eine Überschätzung des tatsächlichen Veganer-Anteils sein. Womöglich oder sogar vermutlich würden die Mitglieder der Tierrechtsinitiative Maqi am Ende ebenfalls als nicht vegan bezeichnet werden müssen, wenn alle ihre Verhaltensweisen allein unter diesem Blickwinkel über längere Zeitausgewertet werden würden.
Unsere Befragung hat aber noch ein weiteres interessantes Ergebnis gebracht:
Mit zunehmender Dauer der veganen Lebensweise achten Veganer auf immer mehr Bereiche, in denen sie tierische Lebensmittel vermeiden. Fast niemand beginnt gleich mit dem Start in das vegane Leben mit der Vermeidung von Kasein-Etiketten oder Renovierungsmaterialien, die tierische Produkte enthalten, aber mit den Jahren nimmt die Anzahl der Personen zu, die auch diese Aspekte in ihre Lebensführung einschließen. Das Spektrum des Veganismus vereinigt also Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, die Tierausbeutung durch die Vermeidung tierischer Produkte zu überwinden. Das Ziel des veganen Weges ist eine sich immer stärker an das Ideal des Veganismus annähernde Lebensweise. Vegan zu leben, ist demnach Weg und Ziel zugleich.
Wieso konsumiert die überwältigende Mehrheit der vegan lebenden Menschen in ihrem Alltag in dem einen oder anderen Bereich tierische Produkte?
Gegner des Veganismus werden hierauf mit Häme reagieren und den Veganern Heuchelei und Dummheit vorwerfen. Heuchelei, weil sie sich an die selbst gepredigte Lebensweise nicht halten, Dummheit, weil sie eine Lebensweise propagieren, die praktisch nicht lebbar ist. Von wegen „vegan ist leicht“, stattdessen werden sie ein „vegan ist unmöglich“ propagieren.
Solche Interpretationen sind aber einem Missverständnis geschuldet und verkehren die Verantwortung:
Veganer treten an, die tiefgreifend in der Gesellschaft verankerte Tierausbeutung zu überwinden. Die Sachlage, dass tierische Produkte mittlerweile in nahezu alle Lebensbereiche der menschlichen Gesellschaft eingearbeitet worden sind, ist nicht die Schuld der Veganer, sondern wird von ihnen kritisert und sie versuchen, dies zu verändern. Wir befinden uns in der bozarren Situation, dass selbst ein urveganes Produkt, wie Obst, mittlerweile oftmals nicht mehr als uneingeschränkt vegan bezeichnet werden kann, weil es beispielsweise mit tierischen Produkten gewachst ist oder weil der Etikettenkleber auf der Verpackung tierische Produkte enthält. Die tierausbeutende Gesellschaft baut ihre Qualprodukte im wahrsten Sinne des Wortes überall ein, wo sie auch nur eingebaut werden können. Veganer setzen das stärkst mögliche Zeichen gegen die Tierausbeutung, indem sie auf den direkten Konsum von tierischen Produkten verzichten und sich im Alltag bemühen, diesen Verzicht möglichst generalisiert umzusetzen und auf Produkte, die eigentlich keine Tierprodukte enthalten sollten, dies aber dennoch tun, entsprechend auszuweiten. Dadurch sensibilisieren Veganer die Gesellschaft für die Problematik und leisten Beiträge für einen künftigen Ausstieg aus der Tiernutzung. Sie kämpfen für Deklarationen, damit die Basis entsteht, nicht-vegane Produkte vermeiden zu können, und sie nehmen im Alltag bei weitem weniger und nur indirekt an der Tierausbeutung teil, die durch die nicht-veganen Konsumenten direkt unterstützt und finanziert wird.
Konsequenzen aus veganer Sichtweise
Uneingeschränkt müssen wir als Veganer die bedauerliche Sachlage eingestehen, dass die tiernutzende Gesellschaft es so weit getrieben hat, dass wir in ihr nicht mehr (über)leben können, wenn wir einen 100% veganen Anspruch in der Praxis leben wollten. Da es nicht sinnvoll ist, dass Veganer sich selbst vernichten oder sich als praktisch existierende Lebensform auflösen, ergibt sich hieraus, dass Kompromisse notwendig sind. Es kann nicht alles vermieden werden und es wird auch kaum Menschen geben, die immer alles vermeiden können, was theoretisch bei entsprechender Umsicht und Wachsamkeit hätte vermieden werden können.
Ein Beispiel ist die medizinische Versorgung:
Sicherlich bestünde die Möglichkeit, auf eine lebensnotwendige Operation zu verzichten, aber im Krankenhaus sicherzustellen, dass alle Medikamente, die verabreicht werden, keinerlei tierische Zusatzstoffe enthalten, ist wohl unmöglich. In der gleichen Situation finden sich Menschen mit einer Reihe von Erkrankungen, die der dringenden medikamentösen Behandlung außerhalb des Krankenhauses bedürften. Um ihrer selbst willen und auch für eine künftige vegane Gesellschaft sollten Veganer nicht auf notwendige Krankenbehandlungen verzichten, sondern sicherstellen, dass sie am Leben und gesund bleiben, um sich für die Entstehung einer veganen Gesellschaft weiter einsetzen zu können.
Der Mehrheit der Veganer sind diese Zusammenhänge bewusst, so dass sie realistisch angegeben haben, bei Medikamenten nicht immer zu 100% ihren veganen Charakter sicherstellen zu können. Dies heißt nicht, dass wir hier stehenbleiben und künftig bedenkenlos alle nicht-veganen Medikamente konsumieren sollten. Im Gegenteil ist es sinnvoll, nach veganen Alternativen Ausschau zu halten, dies auch gegenüber dem medizinischen Personal und den Herstellern zu kommunizieren. Denn schrittweise kann so unter Umständen das vegane Sortiment an Medikamenten erweitert werden, so dass Veganer immer weniger in die Situation gelangen werden, im Rahmen von erforderlichen Krankenbehandlungen auf nicht-vegane Medikamente zurückgreifen zu müssen.
Erkennbar werden auch Bereiche, wo offenbar auch bei Veganern noch Aufklärungsbedarf besteht. Dass mehr Veganer Wollprodukte benutzen als Leder dürfte sich nicht damit erklären, dass alte Wollprodukte länger haltbar sind. Offenbar ist einer Reihe von vegan lebenden Personen noch nicht bekannt, dass Wolle ein Qualprodukt und ihre Herstellung mit Ausbeutung und Leidzufügung assoziiert ist. Aus unseren Daten wird also nicht nur sichtbar, dass vegan ein progressives Entwicklungsspektrum mit zunehmender Konsequenz im Lebenslauf ist, sondern dass es einzelne Bereiche gibt, wo weiterer Aufklärungsbedarf auch unter Veganern besteht.
Ebenso gibt es Bereiche, wo unterschiedliche Bewertungsweisen offensichtlich möglich sind:
Ist es sinnvoll, bereits vorhandene Lederprodukte und andere Tierprodukte aufzutragen, auch wenn jemand zwischenzeitlich begonnen hat, vegan zu leben? Viele bejahen diese Fragestellung, da durch das Auftragen der Kleidungsstücke keine neue Nachfrage geschaffen und insofern nicht zu Tierleid beigetragen wird. Andere verneinen diese Fragestellung, wobei eher auf ästhetisch-psychologische Argumente zurückgegriffen wird, dass man als Veganer keine Tierprodukte am Körper tragen wolle. Ebenso könnte jedoch auch argumentiert werden, dass das Tragen von Tierprodukten ein schlechtes Beispiel für andere Menschen sei, wobei dies aber entschärft werden könnte, indem die Träger offensiv mit ihrer nur noch auslaufenden Nutzung vorhandener Tierprodukte umgingen und ihrer Mitwelt mitteilten, dass sie keine neuen Tierprodukte mehr erwerben. Mit anderen Worten: Jeder wird und soll es so halten, wie er möchte.
Bei so vielen Komplikationen, ist es also doch wahr, dass vegan sehr schwierig ist, wie es von Kritikern behauptet wird, die durch vegan die Allgemeinbevölkerung als überfordert betrachten?
Richtig ist, dass die Gesellschaft es Veganern schwierig macht, aber es gibt Strategien und Möglichkeiten, um die vegane Lebensweise dennoch leicht zu machen:
Der Kern der veganen Lebensweise bleibt der Verzicht auf Fleisch, Fisch,Eier und Milch sowie der Verzicht auf den Neukauf von Kleidungsstücken aus Tieren. Dieser Kern war früher durchaus schwierig umzusetzen, ist es heute in Anbetracht der Fülle an vorhandenen veganen Alternativen und der sozialen Unterstützung durch vegane Verbände, Stammtische und soziale Netzwerke im Internet aber nicht mehr. Es bedarf lediglich der Entscheidung, künftig vegan zu leben und der nachfolgenden veganen Gestaltung des Einkaufskorbes. Entscheiden sie sich für diesen Weg, werden neue Veganer bereits bald die Freude darüber erleben, dass sie auf all diese Tierqualprodukte verzichten und so gesünder, umweltverträglicher, sozialer, tierfreundlicher und mit einem reineren Gewissen leben können. Es sollte ihnen aber zugestanden werden, dass sie die Bereiche ihrer Aufmerksamkeit zunächst fokussieren und erst schrittweise in ihrem individuellen Tempo über den Verlauf ihrer veganen Lebensweise ausdehnen. Nur wenn wir ein solches Maß an positiver Bestätigung und Akzeptanz zeigen, kann es gelingen, die vegane Lebensweise weiter zu verbreiten und ihr Ziel einer tiernutzungsfreien Gesellschaft einstmals in der Zukunft zu erreichen.
Gerade in Zeiten, in denen unsachliche und unqualifizierte Angriffe auf die vegane Lebensweise als Gegenreaktion zunehmen (siehe unsere Artikel zu Sarah Wiener, Carsten Otte und Elisabeth Raether), ist es wichtig, dass die vegane Community den Eindruck von Solidarität und Akzeptanz und nicht von nihilistischer Selbstzerfleischung vermittelt.
Verfasser: Guido F. Gebauer