Was machen Veganer beim Arzt und im Krankenhaus? (Meinungsartikel)
Die Entscheidung für eine vegane Lebensweise wird mehrheitlich aus ethischen Gründen gefällt, um so einen Beitrag zur Verminderung des durch Menschen Tieren zugefügten Leides zu ermöglichen. Anfang 2000 ergab eine umfangreiche Befragung in Großbritannien, dass 87% der vegan lebenden Personen dies aus ethischen Gründen tun. Vermutlich dürfte dies den Verhältnissen in anderen Ländern entsprechen. Gesundheitliche Gründe spielen auch eine Rolle, möglicherweise nehmen sie sogar aufgrund von Medienberichterstattung und Prominentenmodellen zu, dennoch ist davon auszugehen, dass nach wie vor die meisten Veganer ethisch motiviert handeln.
Weil die Entscheidung für die vegane Lebensweise vorwiegend ethisch geprägt ist, erschöpft sich vegan zu leben, nicht darin, vegan zu essen, wobei es allerdings sogenannte Ernährungsveganer gibt, die sich ausschließlich bei der Ernährung darauf achten, Tierprodukte zu vermeiden.Bei ethischer Begründung für die vegane Lebensweise folgt daraus aber, dass in allen Bereichen tierische Produkte zu vermeiden sind und ebenfalls Praktiken, die Leid von Tieren bedingen, wie Zoos, Zirkusse, Delphinshows etc., kritisch zu bewerten und nicht zu unterstützen sind.
Doch wie gehen vegan lebende Menschen damit um, wenn sie krank werden und ärztlich behandlungsbedürftig sind?
Nahezu alle Medikamente wurden auch an Tieren getestet und sehr viele Medikamente enthalten Tierbestandteile. Gerade bei den Zusatzstoffen scheint dies eher die Regel als die Ausnahme.
Wenn wir uns vom Arzt Medikamente verordnen lassen, können wir in einem gewissen Rahmen noch darauf achten, möglichst keine Medikamente einzunehmen, die Tierprodukte enthalten. Das Ausweichen von Kapseln auf andere Darreichungsformen, wie Tabletten, ist beispielsweise meistens möglich, wobei aber auch viele Tabletten Tierprodukte enthalten.
Ein Verzicht auf Produkte, die an Tieren getestet wurden, ist demgegenüber nicht möglich, da nahezu alle Substanzen, selbst wenn sie aus der Naturmedizin kommen, irgendwann einmal auch an Tieren getestet worden sind. Eher möglich wäre wohl eine Auswahl nach Herstellern im Hinblick auf die Frage, ob diese Tierversuche durchführen. Aber selbst wenn diese Informationen immer erhältlich wären, was nicht der Fall ist, wäre aus ethischer Sichtweise wenig gewonnen, wenn Firmen, die auf der Grundlage der Versuche anderer Firmen ihre Produkte vertreiben (Generika) generell vorgezogen würden.
/
Während bereits beim einfachen Arztbesuch letztlich ein Ausschluss von Tierprodukten in Medikamenten oder gar zusätzlich ein Ausschluss von an Tieren getesteten Medikamenten allerhöchstens in Ansätzen möglich ist, ist die Situation im Krankenhaus noch kritischer. Hier eine Kontrolle über die Medikamente im Sinne eines Ausschlusses von Tierprodukten oder der Nutzung an Tieren getesteter Medikamente ausüben zu wollen, dürfte im Regelfall nahezu gänzlich unmöglich sein, selbst wenn wir die Reinigungs- und Desinfektionsmittel, die indirekt mit genutzt werden, einmal unberücksichtigt ließen.
Um eine konsequent vegane Lebensweise aufrechterhalten zu können, ergäbe sich letztlich als einzige Möglichkeit ein nahezu kompletter Verzicht aufschulmedizinische wie auch auf einen erheblichen Anteil naturheilkundlicher Behandlungsmöglichkeiten.
Ist dies von Veganern vor dem Hintergrund ihrer ethischen Entscheidung für eine vegane Lebensweise zu fordern? Sind wir überhaupt noch Veganer, wenn wir beim Arzt und im Krankenhaus auf eine vegane Medikamentenauswahl verzichten?
Wir stoßen hier auf Grenzen der Möglichkeit einer komplett veganen Lebensweise. Es ist weder im größeren Stile real umsetzbar noch wäre es wünschenswert, dass vegan lebende Menschen auf die Möglichkeiten der Medizin verzichteten und gegebenenfalls früher versterben oder unnötig Schmerzen leiden würden. Es ist bedauerlich, dass ein Großteil der Medikamente mit Tierprodukten kontaminiert ist. Ebenso ist es bedauerlich, dass die Gesellschaft versucht, die menschliche Gesundheit auf Kosten von Tieren, die grausamen Experimenten ausgesetzt werden, zu erhalten. Würden Veganer sich aber entscheiden, sich aus dem medizinischen Versorgungssystem herauszuhalten, würden sie am Ende höchstens dazu beitragen, dass sie kürzer leben und damit ihre relative Anzahl sinken würde. Außerdem dürfte die Akzeptanz für eine derartige vegane Lebensweise gegen Null gehen, so dass wir bei einer so stringenten Definition von vegan vermutlich bald keine Veganer mehr identifizieren könnten.
Veganer leben in einer ganz auf die Ausbeutung und den Konsum von Tieren ausgerichteten Gesellschaft. In allen Bereichen des Lebens sind Veganer mit eigentlich nicht gewünschten Tierprodukten konfrontiert, die sie nur dann komplett meiden könnten, wenn sie sich ganz aus den gesellschaftlichen Bezügen ausklinken würden. 100% vegan zu leben, ist eine Utopie, die jedenfalls unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht umsetzbar ist.
Ist es damit sinnlos oder sogar eine Heuchelei, sich als Veganer zu betrachten und eine vegane Lebensweise zu propagieren?
Auch wenn wir anerkennen müssen, dass wir nicht zu 100% vegan leben können, wird es dadurch keineswegs sinnlos, das zu tun, was wir tun können, um das durch den Menschen verursachte Tierleid zu minimieren. Bei weitem der allergrößte Anteil des durch den Menschen verursachten Tierleides wird durch den unnötigen und durch uns vermeidbaren Konsum von Fleisch, Milch, Eiern, Leder, Wolle und vergleichbaren Produkten verursacht. Gelänge es uns, diesen Konsum in einer künftigen Gesellschaft auf Null zu reduzieren, wäre für eine gigantische Anzahl an Tieren das Leid, was wir ihnen derzeit für die Produktion dieser Produkte zufügen, beendet. In diesem Fall wäre auch das Ende der vielen tierischen Zusatzprodukte eingeläutet, die derzeit auch in Medikamenten vorwiegend deshalb verwendet werden, weil sie als Abfallprodukt der Tiernutzungsindustrie anfallen und leicht verwertbar sind. Fast für alle dieser Zusatzprodukte stehen Alternativen zur Verfügung oder sie könnten leicht entwickelt werden, wenn ein gesellschaftliches Interesse hierfür bestünde.
Es ist keine Heuchelei, bestehende Grenzen einzuräumen, es wäre aber Heuchelei, sie zu verschweigen. Es ist unterstützenswert, wenn wir auch bei Medikamenten versuchen, vegane Produkte zu nutzen. Bei der Auswahl können Ärzte und Apotheker auch durchaus hilfreich sein, wenn man ihnen die Problematik erläutert. Bei behandlungsbedürftigen Erkrankungen wird uns dies aber nur zu einem kleinen Anteil gelingen und auch als Veganer werden wir letztlich unter diesen besonderen Bedingungen nicht vegane Produkte konsumieren und damit am durch den Menschen erzeugten Tierleid partizipieren. Dies ist nicht veränderbar.
Sollten nun Fleischesser Veganern die Nutzung von Medikamenten vorwerfen, wären sie aber die wahren Heuchler. Denn während Fleischesser aus völlig trivialen Geschmacks- und Bequemlichkeitsgründen sich an der Aufrechterhaltung einer gigantischen Tierausbeutungsindustrie beteiligen, versuchen Veganer alles ihnen mögliche zu tun, um dieser Industrie ein Ende zu bereiten.